Schlüsselposition für Kerstin Griese in Berlin

Kerstin Griese hat Einfluss: Hier mit Matthias Platzeck am Rande des Bundesparteitags

„Ohne die anderen Bereiche aus dem Blick zu verlieren, wird die Familienpolitik aller Voraussicht nach den Schwerpunkt der Ausschussarbeit in dieser Wahlperiode bilden.“ So steht es in der März-Ausgabe der vom Deutschen Bundestag herausgegebenen Zeitschrift „Blickpunkt Bundestag“, in der die 22 Ausschüsse des Parlaments vorgestellt werden. Mit der steuerlichen Förderung der Kinderbetreuungskosten hat die große Koalition einen ersten wichtigen Schritt in der Familienpolitik geschafft. Der nächste ist das Elterngeld. Wenn das Gespräch auf dieses Thema kommt, sprudelt es aus Kerstin Griese nur so heraus. In der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf sieht die SPD-Politikerin den Schlüssel zu einer höheren Geburtenrate in Deutschland, die so dringend nötig wäre, um die sozialen Sicherungssysteme langfristig zu retten.

Dafür kämpft sie, und zwar Seite an Seite mit ihrer Ministerin Ursula von der Leyen. Diese gehört bekanntlich der CDU an, und der sozial-kulturelle Background der beiden Frauen könnte unterschiedlicher kaum sein. Hier die siebenfache Mutter und Ärztin aus großbürgerlichem Haus, die erst vor wenigen Jahren wie aus dem Nichts in die große Politik eingestiegen ist. Da die ledige und kinderlose Pfarrerstochter, die von Jugend an
sozialdemokratisch geprägt war und zielstrebig an ihrer politischen Laufbahn gearbeitet hat. „Wir mussten uns ein wenig aneinander gewöhnen“, räumt
Kerstin Griese ein. Inzwischen gebe es aber keine Reibereien mehr. In anderen Ressorts mögen CDU und SPD Mühe haben, sich in der großen Koalition zusammenzuraufen, in der Familienpolitik nicht. „Nahezu eins zu eins“ deckten sich die Positionen, sagt Kerstin Griese, und es klingt immer noch ein wenig ungläubig.

Nicht von ungefähr, denn gerade auf diesem Gebiet tobten in den vergangenen Jahrzehnten verbissene ideologische Grabenkämpfe zwischen Sozial- und
Christdemokraten. Unversöhnlich standen sich das konservative Familienbild der Union und die Gleichberechtigungsbestrebungen der SPD gegenüber. Man muss nicht lange fragen, wer sich in dieser Auseinandersetzung durchgesetzt hat. Die Politik von Ursula von der Leyen stammt im Grunde aus dem
SPD-Wahlprogramm. Kerstin Griese ist gleichwohl weit davon entfernt, in Triumphgeschrei auszubrechen. Beim Mittagessen in der Parlamentarischen Gesellschaft senkt sie die Stimme, als das Gespräch auf die Positionen der
Parteien kommt. Am Nebentisch soll niemand ihre Feststellung mitbekommen, „dass wir Frau von der Leyen nicht selten gegen Widerstände bei ihren
eigenen Leuten helfen müssen“.

Ihr ist durchaus klar, dass die augenblickliche Ruhe im konservativen Lager kein Ergebnis eines flächendeckenden Bewusstseinswandels ist. Die Position der Konservativen ist aus zwei Gründen schwach. Da sind erstens die Argumente. In den letzten Jahrzehnten hat keine politische Maßnahme dazu geführt, die Geburtenrate zu erhöhen. Beispiele aus anderen Ländern lassen aber den Schluss zu, dass der Kinderwunsch durch ein gutes Betreuungsangebot befördert werden könnte. In Frankreich oder den skandinavischen Ländern
werden deutlich mehr Kinder geboren als in Deutschland. Dies könnte daran liegen, dass in diesen Ländern Kinder und Berufskarriere auch für Frauen keinen Gegensatz darstellen, sondern sich miteinander vereinbaren lassen.
Die große Koalition wird es mit einer solchen Familienpolitik versuchen – bis sich der Erfolg einstellt oder das Gegenteil bewiesen ist. Dass die
Kanzlerin ausdrücklich ihre Ministerin stützt, ist der zweite Grund, warum konservative Unionszirkel zurzeit still halten.

Für Kerstin Griese birgt diese Situation eine ungeahnte Chance. Sie ist die Stimme der SPD auf einem Politikfeld, das unbestritten zu den wichtigsten der nächsten Jahre gehört und das die SPD auch noch maßgeblich mit beeinflussen kann. Dadurch rückt sie in den Vordergrund. Im März trat sie in einer Woche während einer Plenumssitzung zweimal ans Rednerpult. Es gibt Abgeordnete, die schaffen das in einer Wahlperiode kaum.

Folgerichtig finden auch ihre Stellungnahmen wie selbstverständlich den Weg in die Öffentlichkeit. Wenn beispielsweise Finanzminister Steinbrück laut
darüber nachdenkt, ob man kostenlose Kindergartenplätze nicht durch eine
moderate Senkung des Kindergeldes finanzieren könnte, geben Hinz und Kunz ihren Senf dazu. Wenn aber Kerstin Griese einen solchen Schritt ausschließt, wird das gedruckt. Sie ist eben zuständig. Und deshalb sind ihre Mitteilungen meistens auch relevant. Da streut nicht jemand ungefragt seine unmaßgebliche Meinung unters Volk, vielmehr werden Positionen kurz und prägnant formuliert, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie mit der Fraktionsführung abgestimmt sind.

Nun gäbe es in der Frage der Familienpolitik auch keinen Anlass, sich mit den Oberen in der SPD anzulegen. Kerstin Griese ist aber nach eigenem
Bekenntnis auch nicht der Typ Abgeordneter, „der zu Hause den Rebellen gibt, aber in Berlin still und unauffällig mitläuft“. Sie ergreift vielmehr die Chance, die sich ihr im Moment bietet, ihren Einfluss zu steigern.
Strategisch positioniert sie sich in Berlin in allen möglichen Gruppen, Gremien und Gesprächskreisen.

Selbst ihr Abgeordnetenbüro hat sie nach pragmatischen Gesichtspunkten ausgewählt. Mit ihren vier Berliner Mitarbeitern sitzt sie im Paul-Löbe-Haus Tür an Tür mit dem Sekretariat des Familienausschusses. Der Glaspalast neben dem Reichstagsgebäude ist ein Wunder an Transparenz. Vom Spreeufer aus kann man längs durch das gesamte Gebäude auf das im gleichen Stil erbaute Kanzleramt blicken. Der Bau, der symbolträchtig nach dem letzten demokratischen Reichtstagspräsidenten und ersten Alterspräsidenten des Bundestags, Paul Löbe, benannt ist, beherbergt in Rotunden die Sitzungssäle der Bundestagsausschüsse und zahlreiche Abgeordnetenbüros.

Natürlich darf in einem solchen imposanten Gebäude Kunst am Bau nicht fehlen. Aus ihrem Bürofenster blickt Kerstin Griese auf ein Werk, das wegen
seiner gewaltigen Ausmaße und seines Materials nach Baustelle aussieht. Aus rot-gelben Schalelementen, wie sie zum Gießen von Betonwänden verwendet werden, hat die Künstlerin Franka Hörnschemeyer ein Labyrinth geschaffen, das die dunklen Seiten der deutsch-deutschen Vergangenheit symbolisieren soll. Grundrisse des früheren Mauerbereichs im Spreebogen, wo das heutige Parlamentsviertel steht (inklusive der Hundezwinger der DDR-Grenztruppen) wurden nachgebildet.

Kerstin Griese blickt recht gleichgültig auf das Kunstwerk. Obwohl sie Historikerin ist, ist die DDR nicht ihr Thema. Sie hat sich vielmehr seit
ihrem Studium intensiv mit der deutsch-jüdischen Aussöhnung und dem Gedenken an die Opfer der Nazi-Diktatur beschäftigt. Tief verwurzelt ist die
39-jährige Abgeordnete zudem seit ihrer Jugend in der kirchlichen Arbeit.
Seit 2003 gehört sie der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland an, seit diesem Jahr ist sie Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen
und Religionsgemeinschaften.

Und dann gibt es noch das Netzwerk Berlin, eine Initiative jüngerer SPD-Abgeordneter, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Ideen der Sozialdemokratie ins 21. Jahrhundert zu führen. Kerstin Griese gehört dem Vorstand an und nutzt die regelmäßigen Veranstaltungen der regen Gruppe, um sich auch auf weniger vertrauten Politikfeldern zu informieren und Kontakte zu pflegen. Das bringt ihr lange Donnerstagabende ein.

Am 16. März beispielsweise referiert in einem Sitzungssaal der SPD-Fraktion im Reichstagsgebäude Professor Dr. Jobst Fiedler über die Fehler, die bei der Umsetzung von Hartz IV gemacht worden sind. Fiedler muss es wissen, gehörte er doch seinerzeit der Hartz-Kommission an. Die Arbeitsmarktpolitik gehört nicht zu Kerstin Grieses bevorzugten Gebieten. Gerade deshalb
profitiert sie von solchen Veranstaltungen, wird sie doch im Schnelldurchgang mit Argumentationsstoff für politische Debatten versorgt.

Mindestens genauso wichtig wie die Vorträge selbst ist die Nachbereitung im späten Donnerstagabend im „Wahlkreis“. So heißt eine Kneipe im Parlamentsviertel mit vielen Nischen und Hinterzimmern, in denen sich Kungelrunden mehr oder weniger diskret austauschen können. Kerstin Griese ist eine gefragte Gesprächspartnerin. Eine Kollegin aus dem Vorstand des Netzwerks hat noch dringend etwas mit ihr zu besprechen. Der Leiter des Berliner Büros einer großen regionalen Tageszeitung macht auf einen kurzen Plausch halt an ihrem Tisch, später wird sie noch mit Professor Fiedler das Thema Hartz IV vertiefen.

Und das alles vor prominenter Kulisse. Von den Wänden lachen illustre Gäste des „Wahlkreises“: eine junge Angela Merkel, Gerhard Schröder und Joschka Fischer in aufgeräumter Männerfreundschaftspose – und gleich neben einer
Aufnahme von Björn Engholm und dem ehemaligen Kölner Regierungspräsidenten Franz-Josef Antwerpes hängt tatsächlich auch ein Bild von Kerstin Griese.
Das ist mindestens so viel wert wie eine Spalte auf der Titelseite der FAZ.