Lesung an einem kalten Winterabend

D-Mark-Patriotismus sei völlig fehl am Platze, macht Steinbrück klar. Deutschland müsse ein massives Interesse daran haben, „dass Europa nicht abstürzt“. Die Gemeinschaft stehe vor eine Weichenstellung: „Zerfällt Europa wieder in Nationalstaaten oder schreitet die Integration voran.“ Ein Fehler der Maastrichter Verträge sei gewesen, der Währungsunion keine Wirtschaftsunion folgen zu lassen. Das sei, neben der Finanzkrise und ihren Folgen, ein Auslöser für die Diskussion um den Euro. Und Steinbrück outet sich auf Nachfrage von Frank Angermund als Befürworter der Eurobonds. Die würden Deutschland zwar schlechtere Konditionen bei Anleihen von Banken bescheren, den finanzschwachen Ländern der Euro-Zone aber bessere. Peer Steinbrück spricht sich dafür aus, diesen Preis zu zahlen, unter der Bedingung, dass die Profiteure der günstigeren Staatsanleihen sich zu einer Kontrolle ihrer Finanz- und Haushaltspolitik verpflichten müssten.
Aber es geht bei Rüger nicht nur um Finanzkrise und -politik, es geht auch um das Verhältnis von Politik und Gesellschaft. Wer die Aufgabe der Meinungsbildung in einer 80-Millionen-Gemeinschaft übernehmen solle, Lobbyisten, Bürgerinitiativen, Ältestenräte? Peer Steinbrück übt selbst Kritik an den etablierten Parteien, auch an seiner eigenen, warnt aber eindringlich davor, es zu einer Verhöhnung der Parteien kommen zu lassen. Das habe im vergangenen Jahrhundert schon einmal zur Katastrophe geführt.
Die Parteien selbst sollten sich stets ein Wort von Johannes Rau vor Augen führen: Der Ernstfall sei nicht der Parteitag, sondern die Begegnung mit dem Wähler. Viel zu häufig, auch in der SPD, würden Entscheidungen aber anders herum getroffen.
Aber auch Bürger und Medien bekommen ihr „Fett weg“: Wenn Parteien um den richtigen Weg stritten, was dringend erforderlich sei, würden sie als zerstritten beurteilt. Sind sie sich einig, sei von langweiliger Friedhofsruhe die Rede. Der Kompromiss sei in den Medien oft ein „fauler“, dabei, so Steinbrück, sei das Zusammenleben in einer Gesellschaft von 80 Millionen Menschen ohne Kompromiss gar nicht denkbar. Wer aber bei einem Kompromiss nachgebe, auch um eine Lösung möglich zu machen, der werde in Zeitungen – „gleich hinter dem Sportteil“ – als Verlierer dargestellt. 10.000 kommunale Mandate seien allein in Nordrheinwestfalen zu vergeben, ehrenamtliche zumeist. „Was machen wir, wenn sich keiner mehr dafür findet“, gab Peer Steinbrück den Gästen seiner Lesung mit auf den Heimweg.