Ein Zwischenruf zur derzeitigen Situation von Petra Kammerevert MdEP

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Jedem der sehr seltenen „Ausraster“ der Kanzlerin gebührt besondere Beachtung. In der Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums am Montag hat Frau Merkel dem Vernehmen nach Diskussionen über weitergehende Lockerungen der Beschränkungen im Kampf gegen das Corona-Virus in einer für sie ungewöhnlich scharfen Art kritisiert und vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ gewarnt.

Schon vor mehreren Wochen hat sie jede Diskussion über eine Exitstrategie kategorisch abgelehnt. Damit offenbart sie erneut, was sich in den vielen Jahren ihrer Amtszeit schon häufig gezeigt hat: Sie scheut jede offene Diskussion und will nach dem Motto: „Bleibt alle ruhig, Mutti macht das schon!“ handeln. Den Versuch, solche Diskussionen im Keim zu ersticken, würdigen manche als Führungsstärke. Aus meiner Sicht will sie damit Diskussionsverbote verhängen. Dies ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig und inakzeptabel.

Aber fangen wir mal vorne an: Am Beginn des Lockdowns war immer die Rede davon, dass man die Infektionszahlen in einem Rahmen halten müsse, damit unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird und wir ausreichend Intensivkapazitäten vorhalten können, damit Entscheidungen über Weiterbehandlungen, wie wir sie in Italien und Frankreich erlebt haben, verhindert werden.

Damit dies gelinge müsse die Verdoppelungszeit neuer Infektionen bei einer Dauer zwischen 10 und 12 Tagen liegen, damit Lockerungen möglich seien. Heute, am 21. April, sind wir in Deutschland bei einer Verdoppelungszeit von 37 Tagen in Deutschland, in NRW sogar bei 40 Tagen.

Von den inzwischen rund 31.000 Intensivbetten, sind knapp 13.000 mit Nicht-Covid-Patienten belegt und knapp 3.000 mit Covid-Patienten, wobei letztere Anzahl sinkt. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten liegt somit inzwischen bei rund 13.000. Das wichtige Ziel – #flattingthecurve – ist erreicht.

Nun wurde uns ein neuer magischer Wert präsentiert: Die Reproduktionszahl R. Es hieß, man müsse dahin kommen, dass jeder Infizierte weniger als einen weiteren Menschen ansteckt. Seit mehr als vier Tagen sind wir bei einem Wert von 0,7. Der Wert ist aber schwer zu berechnen, sehr volatil und von vielen verschiedenen Einzelfaktoren abhängig, also nur auf den ersten Blick verständlich und aussagekräftig.

Beide Messgrößen zeigen aber, dass die ergriffenen Maßnahmen wirken. Dennoch liest man jeden Tag erneut Überschriften, die dem Panikmodus entsprungen zu sein scheinen: „Die Zahlen steigen weiter“. Kein Wort darüber, dass inzwischen mehr Menschen täglich für gesund erklärt werden als Neuinfizierte dazukommen. Anstatt von der Gesamtzahl der Infizierten zu sprechen, wäre es an der Zeit, die Zahl der aktuell Infizierten zu nennen, um ein klareres Bild zu bekommen. Dass die Gesamtzahl der Infizierten steigt, solange das Virus nicht ausgerottet ist, ist völlig logisch, sagt aber wenig über die tatsächliche Situation aus.

Ich kann mich inzwischen des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass es zumindest unterschwellig in der politischen Diskussion darum geht, den Virus ganz auszurotten oder zumindest solange zu warten, bis ein Impfstoff entwickelt ist. Anstatt Mut zu vermitteln und mit der gebotenen Sorgfalt anzufangen, konsequent zum öffentlichen Leben zurückzukehren, verharren wir fast in Schockstarre und erkennen nicht, welche Fortschritte gemacht worden sind. Ich halte das für grob fahrlässig. Man kann nicht sehr viel länger das Leben in Deutschland lahmlegen!

Sichtbares Zeichen eines solchen Panikmodus ist aus meiner Sicht auch die Diskussion über eine Maskenpflicht. Die allgemeingültige Matrix, die zurzeit von den Gesundheitsämtern angewandt wird, um festzustellen, ob jemand in Quarantäne muss, besagt, diese soll angeordnet werden, wenn sich jemand mehr als 15 Minuten im engen Kontakt (d.h. mit weniger als 1,5 Metern Abstand) befunden hat. Ich frage mich, wann ist diese Bedingung erfüllt, wenn man einkaufen geht und nur flüchtig an jemanden vorbeiläuft oder in 1,5 Metern Abstand an der Kasse steht. Wie passen Maskenpflicht und Matrix zusammen? Ebenso sollen die 15 Minuten- sowie diese Abstandsregel in der geplanten App als Indikator gelten.

Es ist inzwischen gelernt, diesen Abstand einzuhalten. Es gibt keinen Beleg dafür, dass ein kurzzeitiges Vorbeilaufen an einer Person, die infiziert ist, zu einer Ansteckung führt. In Bereich des ÖPNV, Wartebereichen in Arztpraxen, Krankenhäusern oder Behörden, wo sich Abstände nur schwer einhalten lassen und auch nicht sicherzustellen ist, dass die 15 Minuten nicht überschritten werden, kann ich eine Maskenpflicht nachvollziehen.

Nun mag man einwenden, dass es doch niemanden schade, eine Maske zu tragen. Das mag sein, aber vielleicht sollten wir uns auch mal fragen, was für ein Bild wir nicht zuletzt unseren Kindern und Enkelkindern vermitteln, wenn wir durch die Maskenpflicht signalisieren, dass jeder unserer Mitmenschen eine potenzielle Gefahr für uns darstellt? Und wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der jedes Gegenüber als gefährlich wahrgenommen wird. Düsseldorf hat rund 650 000 Einwohner und zurzeit etwas über 400 infizierte Personen. Selbst wenn man eine Dunkelziffer unterstellt, wie groß ist die Gefahr einem Infizierten beim Einkaufen tatsächlich über längere Zeit zu nahe zu kommen?

Studien gehen inzwischen davon aus, dass nur 15 Prozent der Infizierten Familienangehörige im eigenen Haushalt anstecken. Die Frage, ob eine Maskenpflicht tatsächlich verhältnismäßig ist, muss erlaubt sein, vor allem mit Blick darauf, was das für unsere zukünftiges Zusammenleben bedeutet. Ich möchte auch zukünftig noch jemanden im Laden oder auf der Straße freundlich anlächeln können oder auch sehen, ob er vielleicht gerade ein wenig grimmig dreinschaut. Ich will meine Mitmenschen nicht als Gefahr betrachten müssen!!!

Wir müssen auf Sicht lernen, mit dem Virus zu leben und das heißt auch, das Leben langsam wieder hochzufahren. Natürlich ist jede Maßnahme auf dem Weg hierhin mit dem Risiko verbunden, dass die Zahl der aktuell Infizierten wieder steigt und sicherlich kann es nicht darum gehen, dass von heute auf morgen alles wieder so läuft wie vor der Pandemie. Möglicherweise werden wir auch wieder Rückschritte machen. Aber wir müssen jetzt den Mut haben, es zu versuchen.

Wohin Diskussionsverweigerungen führen, lässt sich in diesen Tagen beobachten. Wir erleben gerade, dass der „Lockdown“ im Vergleich zum Ausstieg aus dem Lockdown leicht war. Um es klar zu sagen: Der Lockdown war richtig! Ebenso richtig ist es jetzt konzentriert, intelligent, zügig aber nicht übereilt, das politische Handeln voll und ganz auf das Hochfahren des öffentlichen Lebens zu konzentrieren.

Auch wissen wir jetzt, dass wir kostbare Zeit haben verstreichen lassen. Wochen sind seit den Schulschließungen vergangen, ohne dass man unmittelbar nach der Schließung neben Organisation des Fernunterrichts eine Strategie entwickelt hätte, unter welchen Bedingungen man wieder mit dem Unterricht beginnen kann. Welche hygienischen Vorkehrungen getroffen werden müssen, wie man Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen aufteilen kann, wie man die Pausen organisiert, wie ältere Lehrerinnen und Lehrer oder solche die zu den Risikogruppen gehören, geschützt werden können usw.

Die Verweigerung einer solchen – auch öffentlichen Diskussion – führt jetzt dazu, dass die Schulen innerhalb von nur wenigen Tagen all diese Fragen klären müssen, dabei weitgehend allein gelassen werden und sich zu Recht überfordert fühlen. Wie man Schulöffnungen sinnvoll und effektiv organisiert und dabei mit den Kleinsten anfängt, kann man mit einem Blick über den eigenen Tellerrand in Dänemark sehen.

Mit Blick auf die Schulen enthüllt sich schonungslos ein weiteres Versäumnis der vergangenen Jahre. Wir haben zu wenig in die Bildungsinfrastruktur investiert. Hier rede ich nicht nur von der mangelnden Ausstattung der Schulen mit digitaler Infrastruktur, die Versäumnisse im Bereich der digitalen Bildung, der mangelnden Schulung von Lehreinnen und Lehrern, sondern auch vom allgemeinen baulichen Zustand unserer Schulen. Sicherlich die Kommunen haben, wo immer dies möglich war, ihr Möglichstes getan, die Gebäude instand zu halten, sanitäre Einrichtungen wenigstens notdürftig zu sanieren und neue Schulen zu bauen. Aber gerade den Kommunen mit großen finanziellen Schwierigkeiten waren hier immer enge Grenzen gesetzt und es ging eher darum den Mangel zu verwalten, als darum Orte des Lernens zu schaffen, an denen sich Schülerinnen und Schüler wohl fühlen, gern Lernen und die mit einem vernünftigen sanitären Standard ausgestattet sind. Jeder, der in der letzten Zeit mal eine Schule von innen betrachten konnte oder gar in die Situation kam, eine Toilette benutzen zu müssen, weiß wovon ich rede. Die Reinigung von Schulen wurde vielerorts aus der Not heraus auf ein Minimum reduziert, und wie sich jetzt zeigt, fehlt es sogar an Seife und Desinfektionsmitteln. Zumindest Letzteres hätte man in den letzten vier Wochen seit der Schulschließungen organisieren können, aber man durfte ja nicht darüber reden, wie man den Exit organsiert, weil dies falsche Hoffnungen geweckt hätte.

Lasst uns über die Kinder sprechen

Vor etwas mehr als einer Woche wurde in der Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina der Rat gegeben, Kitas bis nach der Sommerpause geschlossen zu halten. Mir stellt sich dabei die Frage, in welcher Wirklichkeit Menschen leben, die solche Vorschläge machen. Hierbei geht es zwar auch um die Frage, wie Eltern, insbesondere Alleinerziehende, mit einer solchen Situation fertig werden sollen und wie in solchen Krisenzeiten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu bewerkstelligen sein soll. Vor allem aber geht es um die Kinder selbst. In einem, wie ich finde, bemerkenswerten Gastbeitrag von Peter Dabrock (ehemaliger Vorsitzender des Ethikrates) im „Tagesspiegel“ vom 14.04.2020 hinterfragt dieser zurecht diesen Vorschlag und stellt die treffende Frage, inwieweit Kinder in der jetzigen Debatte nur noch als Objekte von Erziehung und Bildung, aber nicht mehr als Subjekte mit eigenen Rechten wahrgenommen werden. Er schließt die Frage an, ob Kinder – und zwar nicht nur die aus den sogenannten bildungsfernen Schichten – knapp ein halbes Jahr auf Kontakte mit anderen Kindern verzichten können und ob ein solche Maßnahme nicht ein schwerer Verstoß gegen deren Grundrechte darstellt.

In einem anderen Artikel, den Peter Dabrock mit Matthias Braun in Spiegel Online am 18.04.2020 veröffentlichte, kommen beide zu dem Schluss, dass Kinder ein „Recht auf Gegenwart“ haben und dass es ein schwerer Schlag gegen das Kindeswohl und verfassungsrechtlich bedenklich sei, es ihnen vorzuenthalten.

Kindertagesstätten und Grundschulen sind eben nicht nur Orte von Bildung, Erziehung und Betreuung, sondern auch und vor allem Orte an denen Kinder emotionale und soziale Kompetenzen erwerben und zwar im Umgang, im Spiel und in Freundschaften mit anderen Kindern. Bei aller Mühe, die sich Eltern geben, trotz geschlossener Kitas, Grundschulen und Spielplätzen, die Kinder bei Laune zu halten und dabei durchaus große Kreativität entwickeln, das können sie den Kindern nicht bieten. Eltern können nicht den realen Kontakt zu Gleichaltrigen ersetzen.

Wir wissen inzwischen auch, wie wichtig frühkindliche Bildung ist. Dies gilt für alle Kinder, egal aus welcher gesellschaftlichen Schicht sie kommen, besonders aber für diejenigen, die zuhause nicht die Förderung erfahren, die sie eigentlich bräuchten. Gerade für diese Kinder ist es fatal, wenn ihnen die Förderung in Kita oder Schule vorenthalten wird. Ihnen droht eine Lücke in Bildung und Persönlichkeitsentwicklung, die kaum oder nur sehr schwer wieder aufgefüllt werden kann. Je länger der Shutdown in Kita und Schule dauert, umso mehr droht uns eine erneute Verschärfung der sozialen Spaltung in der Bildung, mit allen Folgen die dies nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt haben wird.

Hinzukommt eine ungeheure Belastung für die Eltern. Es ist eben nicht so leicht, im Homeoffice zu arbeiten, Videokonferenzen abzuhalten und dabei gleichzeitig Kinder zu betreuen, denen nur schwer zu erklären ist, dass Papa oder Mama zwischendurch auch arbeiten müssen. Wenn dann noch beengte Wohnverhältnisse und ökonomische Ängste hinzukommen (Kurzarbeit, die Sorge um den Arbeitsplatz etc.), sind Konflikte vorprogrammiert, die nicht selten auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. Wenn nun zu Recht immer mehr Wirtschaftsbereiche wieder hochgefahren werden, wird sich die Situation der Familien eher noch verschärfen.

Damit steigt die Gefahr, dass wir gesellschaftlich wieder in überwunden geglaubte Rollenklischees verfallen, die allein aus der Not geboren sind. Wir haben in Deutschland lange gebraucht, bis wir dahin gekommen sind, dass Mütter die arbeiten gehen, nicht als Rabenmütter angesehen werden und der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz fast überall verankert wurde, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten (bei allen Versorgungslücken, die wir immer noch zu beklagen haben). Einen Rückfall in die 50iger Jahre kann niemand wollen.

Die Familie steht unter dem Schutz des Grundgesetzes, aber das scheint in den momentanen Diskussionen keine Rolle zu spielen!

Immer wieder wird in der Diskussion angeführt, Kitas und Grundschulen, seien Virenschleudern und es sei nicht auszuschließen, dass Kinder im Fall von Corona als Superverteiler anzusehen seien. Hierfür gibt es, nach allem was man weiß, keine Belege. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Interview mit dem Infektiologen Professor Hübner von der Kinderklinik der Uni München in FAZ-Online vom 17.04.2020 der darauf hinweist, dass Kinder zwar häufig den Influenza-Virus verteilen, es bei Corona dafür aber bisher keine Hinweise gibt. Eine weitere Studie, die mit 13.000 Menschen in Island durchgeführt wurde, zeigt, dass Kinder weit weniger von Corona betroffen sind. Bei Kindern unter 10 gab es keinen einzigen positiven Befund. In Island blieben alle Schulen und Kitas geöffnet, was aber nicht zu einem Anstieg der Infektionen geführt hat. Die Zahl der Infizierten blieb stabil niedrig. Auch Daten der WHO legen nahe, dass Kinder sich vor allem bei Erwachsenen anstecken, Erwachsende dagegen aber kaum bei Kindern. Hinzukommt, dass die Krankheit bei Kindern meist gar nicht und wenn dann nur sehr schwach ausbricht.

Nun kann man sicherlich sagen, dass Corona bei Kindern sowie die Frage der Übertragung von Kindern auf Erwachsene bislang nur wenig erforscht ist. Das ist sicherlich richtig, daraus aber den Schluss zu ziehen, dass man dann doch besser erst mal abwartet, ist aus meiner Sicht der falsche Weg

Solange es keinen Impfstoff gibt, können wir zwar die Ausbreitungsgeschwindigkeit mindern, aber es wird keine Sicherheit geben. Es bleibt ein Risiko, aber Panik ist immer ein schlechter Ratgeber und Selbstmord aus Angst vor dem Tod ist auch keine Option. Es müssen Lösungen diskutiert und gefunden werden, wie wir bis zur Entwicklung eines Impfstoffs Risiken minimieren, vor allem für die Risikogruppen.

„Zu sagen, dass (es) schwierig sei und deshalb alle zuhause bleiben sollten, verdreht die Beweislast: die Rückgabe von zeitweilig eingeschränkten Grundrechten stellt eine Pflicht dar, sobald sich bei der Abwägung mit anderen Grundrechten mildere Mittel finden. Diese müssen gesucht werden. Schwierige, aber lösbare Einzelfälle rechtfertigen nicht, dieser Pflicht nicht nachzukommen.“ (Matthias Braun/Peter Dabrock, Spiegel, 18.4.2020)

Diesen Satz muss man dreifach unterstreichen!!! Die Verweigerung von Diskussionen durch Frau Merkel, ist vor diesem Hintergrund geradezu ein Verfassungsbruch. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch in der Krise uneingeschränkt. Wir brauchen dringend eine breite gesellschaftliche Debatte, die diesem Grundsatz gerecht wird, die Folgen aller Maßnahmen mit in Blick nimmt und nach Lösungsmöglichkeiten sucht, wie wir bis zur Entwicklung eines Impfstoffs ein Leben organisieren können, das zwar Risiken minimiert, aber nicht risikolos sein kann und das dennoch lebenswert ist.